Unbekannte Düfte, verlorene Geschmäcke

Letzthin hat mich ein junger Sommelier gefragt, wie er an einer Weinverkostung all diese Düfte, Gerüche und Geschmäcke erfassen soll, wenn er sie gar nicht mehr kennt? Die Frage hat mich wirklich beschäftigt – ja, und sie ist berechtigt! Wein ist ein sehr sinnliches Lebensmittel. Farbe, Duft, Geschmack und Aromen wecken Erinnerungen, eröffnen neue Welten oder stellen den Menschen vor Rätsel. Die Verkostung eines Weines ist unerhört vielschichtig und komplex. Sensorik ist sinnliche Wahrnehmung und Gedächtnisarbeit. Der Mensch hat die Fähigkeit, Hunderte, ja Tausende Geschmäcke und Gerüche zu erkennen. Das bedingt aber, dass die Geruchs- und Geschmacks-Bibliothek gut gefüllt ist, und zwar mit natürlichen Düften und Geschmäcken. Viele der heutigen Konsumenten, besonders Jugendliche, wissen nicht mehr, wie Erdbeeren richtig schmecken, wie eine Melone duftet oder wie uns eine reife Aprikose verführt. Die Früchte sind zu jeder Zeit verfügbar und nach EU-Vorschriften gezüchtet. Vielleicht haben ihre Wurzeln nie richtige Erde gesehen, und sie waren auch nicht den Launen der Sonne ausgesetzt. Dafür sind sie von der richtigen Grösse, ohne lästige Kerne, lange haltbar und von nichtssagendem Geschmack. Das ist nicht anders bei Blumen mit ihren floralen Düften. Wer weiss denn noch, wie Veilchen duften oder der süsse Duft der Akazien.
Egal, was man kauft, es schmeckt alles gleich, nämlich nach einem grossen Nichts! Ob es Trauben aus Südafrika, Peperoni aus Marokko, Tomaten aus Spanien, Erdäpfel aus Israel, Gurken aus Holland, Melonen aus Frankreich oder Litschi aus China sind. Wenn man sie mit verbundenen Augen probieren müsste, wäre schwer zu definieren, um welche Frucht, welches Gewürz, welches Kräutlein oder um welches Gemüse es sich handelt.
Im Geruch offenbaren sich über tausend Geruchsnuancen. Das komplette Genusserlebnis bilden Geschmack und Geruch aber erst gemeinsam. Um genaue Geschmacks- oder Dufterlebnisse zu erfahren, müsste man auch nicht in ferne, sondern in sogenannt rückständige Länder reisen. Ob in der Türkei, in Portugal, Rumänien oder Ungarn, plötzlich riechen Früchte und Gemüse. Und lange vergessene Aromen öffnen die tiefsten Erinnerungen in unserem Geschmackszentrum. Es gibt doch noch Tomaten, welche die Sonne in sich haben, es gibt noch Pfirsiche, die saftig, weich und aromatisch sind, und es gibt noch kleine, butterweiche Birnen, die unwiderstehlich riechen. Den Jungen bleibt der geschmackliche Reichtum unserer Natur vorenthalten.
Der Detailhandel wird von grossen Firmen dominiert, und auch der Laden um die Ecke gehört inzwischen ihnen. Ob Früchte, Gemüse oder Fleisch – alles ist gleich, standardisiert, steril und ökonomisch. Es sind ertragsreiche Sorten, sie sind resistent gegen Keime und Bakterien, sie ertragen lange Transportwege, und sie sind für die Grosseinkäufer günstig. Es gibt leider kaum einen Ausweg aus dieser sensorischen Einöde. Die Zukunft sieht fast so aus, dass Aromaschulung nur noch mit künstlichen Aroma-Flakons einer französischen Firma stattfinden kann und die sensorische Weinanalyse bald empfindlichen Maschinen überlassen wird, die in der Lage sind, über hundert Aromen in einem Wein nachzuweisen.
Unseren jungen Sommeliers kann ich deshalb nur eines empfehlen: Geht in den Ferien und in eurer Freizeit aufs Land, auf die ursprünglichen Märkte zum Probieren und zum Schnuppern, probiert alles und speichert all die Düfte und Geschmäcke, solange es noch geht.
Wer tiefer in das Duft- oder Geschmacks-Schlaraffenland eintauchen möchte, sollte ein Standardwerk von Guy Bonnefoit lesen. Er ist der Sommelier, der seine Wahrnehmungen seit Jahrzenten systematisch erfasst und verarbeitet hat. Seine Bücher geben mit über 800 Aromen eine umfangreiche Einführung in die Geruchswahrnehmung. Es sind unverzichtbare Nachschlagewerke für alle, denen Wein mehr bedeutet als vergorener Traubensaft.

Der Autor: Bruno-Thomas Eltschinger ist Präsident des Deutschschweizer Sommelier-Verbandes (SVS/ASSP) und Leiter der Sommelier-Fachschule Zürich. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich professionell mit der internationalen und schweizerischen Weinszene.

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