Warum sollte ein Wein Charakter haben?

Schon Aristoteles stellte fest, dass der Mensch, um gut und glücklich zu leben, Tugenden wie Wahrhaftigkeit besitzen sollte, die ein Mittelweg zwischen Gut und Böse sei. Alle Charaktere sind aus denselben Elementen zusammengesetzt, nur die Proportionen machen den Unterschied aus. Der Begriff Charakter taucht immer wieder auf, wenn es darum geht, einen Wein zu beschreiben, denn er ist nicht wirklich genau. Zusammengefasst beschreibt «Charakter» die Summe der Geruchs- und Geschmackseigenschaften eines Weins. Grundsätzlich kann man dabei erst einmal unterscheiden zwischen schweren und leichten Weinen, intensiv-aromatischen oder eher aristokratisch-feingliedrigen Tropfen. Ausserdem ist natürlich die Fruchtigkeit im Wechselspiel mit Mineralität und holzig-würzig-erdigen Noten wichtig.

Der Charakter wird also davon bestimmt, ob eher die Fruchtigkeit des Weins oder andere Eindrücke in den Vordergrund treten oder ob sich diese Elemente harmonisch verbinden. Dann spricht man meistens von einem besonders ausgeglichenen Charakter. Auch die Balance von Fruchtsäure, Süsse und Tanninen wird im Charakter des Weines berücksichtigt. Eine dominante Säure erzeugt einen beissenden Charakter, während fehlende Säure den Wein stumpf und alt wirken lässt. Unreife Tannine erzeugen einen grünen und derben Eindruck, während fehlende Tannine den Wein auch zu leicht oder sogar belanglos wirken lassen können.

Die lange Geschichte des Weins ist genauso wechselhaft, wie sich die Sprache des Weins über die Zeit veränderte. Heute fliessen oft entweder diese gefälligen und an Rosamunde-Pilcher-Filme erinnernden Hedonismen ein, oder dann traktieren uns Sommeliers, die direkt von der Sommelier-Universität kommen, mit Fachausdrücken, die niemand versteht, der noch menschliche Empathie verspürt. Das klingt dann so, wie wenn ein Arzt seinem Patienten alle hippokratischen Eideseigenschaften erklärt. Aber manche Weinwörter geraten zum Glück ausser Gebrauch, andere kommen dazu. Wurde ein Wein im 19. Jahrhundert, blau, charakterlos oder geistreich genannt, wussten die Fachleute, was damit gemeint war. Blau hiess halbhell, schleierig, also nicht ganz klar. Charakterlos bedeutete, dass der Wein aus gemischtem Rebsatz erzeugt worden war, ohne dass man die einzelnen Sorten getrennt hätte. Geistreich wurde als Hinweis auf hohen Alkoholgehalt verstanden. Trocken bedeutete anfangs süss, heute steht es mehr für durchgegoren. Herb war ursprünglich ein Wort für die Bezeichnung des Gerbstoffgehalts von Rotweinen. Heute wird es häufig benutzt, um Weissweine ohne Restsüsse zu charakterisieren.

Ich verstehe unter charaktervollem Wein, wenn alle Elemente in sich stimmen, harmonisch sind und die Herkunft als solche erkennbar ist, desto höher liegt die Qualität. Also nicht einfach ein möglichst hoher Alkoholgehalt! Bei günstigen oder ganz billigen Produkten wird es logischerweise schwieriger. Da bleibt von den Charakteren oder Eigenschaften, die einen Wein auszeichnen, naturgemäss nicht viel mehr übrig als einfach «Traubensaft mit Alkohol». Ein charaktervoller Wein hat aber viele Möglichkeiten, seinen Charakter zu zeigen, da bin ich offen für Neues und gar nicht auf ein bestimmtes Muster festgelegt. Um mich zu überzeugen, muss der Wein aber seine Herkunft deutlich zeigen.

Wie oft bekomme ich einen mit viel Technik geschönten Wein hingestellt. Er schmeckt zwar köstlich, hat aber keine Ecken und Kanten. Ich spüre kein Terroir und keine Heimat. Das sind dann die assemblierten, oft auch fraktionierten Weine, die den Louis-Toujours-Geschmack des heutigen Mainstreams widerspiegeln. Aber ein Wein, der Gestein, Wind, Wetter und die individuelle Handschrift des Winzers spüren lässt, der begeistert mich. Ich schwärme für Terroir-Weine, die mit viel Charakter, Ehrlichkeit und ungeschminkt natürlich meinen Gaumen kitzeln.

Der Autor Bruno-Thomas Eltschinger ist Präsident des Deutschschweizer Sommelier-Verbandes (SVS/ASSP) und Leiter der Sommelier-Fachschule Zürich. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich professionell mit der internationalen und schweizerischen Weinszene.

→ zum Hotelier

Der Sommelierverband Deutschschweiz bevorzugt die Produkte unserer PLATINUM-PARTNER:

elemant selection
Seit 1863

 Feldschlösschen LogoSTUDER Logo

 

 

 

 

 

Sponsoren:

1 Swiss Wine sw