Oh, du lieber Wein

Johann Wolfgang von Goethe hat in unzähligen Gedichten dem Wein gehuldigt. Auch Shakespeare, Schiller, Lessing und Baudelaire haben dem Wein Gedichte gewidmet. Poesie und Gedichte sind heute nicht mehr so modisch, es ist höchstens Slam-Poetry, welche uns jetzt noch begegnet. Dafür sind heutzutage so manche Weinbeschreibungen beinahe wahre Dichtungen. Sie sind exotisch, blumig, ausschweifend und fantasiereich. Oft trocken und sexistisch, manchmal intellektuell und bodenständig. Es gibt unzählige Webseiten und Weinblogs, die uns pausenlos mit Weinbeschreibungen und Verkostungsnotizen auf dem Laufenden halten. Sie sollten informieren, als Einkaufshilfe dienen, unsere Weinkompetenz bereichern und den Weg zum önophilen Höhepunkt seines Verfassers dokumentieren. Das Ziel ist nicht immer erfüllt, aber als unbeabsichtigter Nebeneffekt verschaffen sie uns einige vergnügliche Momente. Nach dem Lesen der dritten Weissweinverkostungs-Notizen wissen wir schliesslich den Unterschied zwischen dezenter, frisch-würziger Nase von gereiftem Boskop-Apfel und filigranen Zitrusfrüchten, Williamsbirnen, Feigen, Honig, Bittermandeln, Lakritze und Äpfeln.
Natürlich dürfen auch die schön eingebaute Restsüsse und die natürliche Kohlensäure nicht fehlen. Und wenn es im Gaumen noch dicht, kompakt, gefällig und cremig ist, müsste es sich wirklich um ein süffiges Gewächs handeln. Der Antrunk ist sehr breit und opulent, wobei auf der Zungenflanke eine dezente Säure wahrnehmbar bleibt. Um einem grossen Wein näher zu kommen, brauchte es aber in der Nase deutlich mehr Frucht. Etwas Eukalyptus und Minze, mit Düften von Windbeuteln, Brioche und Tannenhonig, welche ihm eine betörende, raffinierte Verspieltheit und Komplexität verleihen. Eine Fruchtbombe im Glas! Lieber einen enorm fruchtigen, intensiven und vollmundigen Wein, mit rauchiger, exotisch anmutender und seidiger Dichte, als einen dünnen, sauren, untrinkbaren Wein, bei dem man nicht mal weiss, ob es sich um Spontangärung oder einen Weinfehler handelt. Weissweine sind natürlich nur der Anfang, am Weinhimmel leuchten weit mehr rote Riesen als weisse Zwerge. Und dann gibt es noch die Wein-Kometen, die immer wiederkehren oder in jedem Jahrtausend nur einmal erscheinen. Solche himmlischen Genüsse sind die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, des Universums und des ganzen Restes.
Das Problem bei solch göttlichen Weinen ist, dass sie kaum zu beschreiben sind. Es fehlen Wörter und die Parker-Punkte. Dass sie lebhaft, wohlriechend; konzentriert, würzig, intensiv, sehr Tannin-betont auftreten, ist doch selbstverständlich. Wenn in der Nase ätherische Düfte von Schwarzwälder Kirschtorte, kubanischem Tabak, nasser Wolldecke, Nelke und frisch gestochenem Torf das Connaisseur-Herz höher schlagen lassen, heisst das noch lange nicht, eine nasale Beethoven-Symphonie zu erleben. Nur wenn das Barrique intensiv wahrnehmbar und elegant ist, und die ewige Länge am Gaumen die Zeit stehen lässt, um mit Unmengen von Extrakt unseren Tastsinn zu betören, nähern wir uns dem Wein-Nirwana. Pfeffrige Nase, würzige, tolle Aromatik und Komplexität, vielschichtige Frucht und eine sensationelle Tannin-Struktur zeugen davon, dass der Schöpfer dieses Weingedichtes seine Gabe direkt von Gott erhalten hat. Er hat ein Weinphänomen erschaffen, sexy üppig, schmelzig süss, vollbusig, aber mit guter Struktur. Ein zupackendes Tier, ein maskulines Muskelpaket mit Kanten und Ecken, auf diesen Wein hat die Welt gewartet!
Wer einen solchen Wein sein Eigen nennt, besitzt einen flüssigen, fein geschliffenen Diamanten, der nach Jahrzehnten immer noch strahlt. Wein ist halt für viele nicht nur Wein, sondern ein sensorisches Sudoku, ein sprachlicher Blumengarten, ein önologischer Fruchtsalat oder hedonistischer Exhibitionismus. Nüchtern betrachtet, machen mich solche Ergüsse schon ohne Wein betrunken.

Der Autor: Bruno-Thomas Eltschinger ist Präsident des Deutschschweizer Sommelierverbandes (SVS/ASSP). Seit vielen Jahren beschäftigt er sich professionell mit der internationalen und der schweizerischen Weinszene.

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