Hitzige Diskussionen über zu kalten Wein

Der Volksmund sagte früher: Je schlechter ein Wein schmeckt, desto kühler wird er serviert. Dass sich diese Legende bis heute hält, zeigen die zahlreichen heftigen Diskussionen über die «richtige Serviertemperatur» zwischen Gast und Gastgeber. Tief im Innern wütet dieses Vorurteil beim Gast noch immer, denn Rotwein muss wohl kochen, um seine Aromen zu entfalten? Kalt läuft es mir aber den Rücken herunter, wenn ich im Restaurant Situationen wie die folgende erleben muss: Der Kellner schenkt einen Rotwein ein. Der Gast probiert und sagt als Erstes: «Viel zu kalt, guter Rotwein muss bei Zimmertemperatur getrunken werden.» Er umklammert das Glas und versucht den Inhalt mit der Hitze seiner vorher aneinander geriebenen Handflächen zu wärmen. Eine dramatische Rettungsaktion läuft an. Was so schulmeisterhaft tönt, ist in Wahrheit eine rechthaberische Behauptung, die nicht berücksichtigt, dass die Regel mit der Zimmertemperatur aus früheren Zeiten stammt, was damals 16 bis 18 Grad bedeutete. Heute ist das ein weit verbreiteter Unsinn! Ein Rotwein, der zwischen 21 und 24 Grad getrunken wird, bereitet kein Vergnügen, schmeckt einsilbig, alkoholisch und säurebetont. Er brennt in der Speiseröhre und
verätzt die Kehle.
Die Diskussion über Weinkultur kann also sehr emotional werden. Und manche Überlieferungen halten sich über Jahre, obwohl sie keine Gültigkeit mehr besitzen. So auch der Irrtum über die Zimmertemperatur. Gibt es überhaupt eine richtige oder falsche Serviertemperatur? Das Argument vom Aromagewinn, der erst bei Zimmertemperatur zur Entfaltung kommen soll, braucht eigentlich eine differenzierte Betrachtung und kann nicht allgemein Gültigkeit haben. Der Temperatursinn wird dem Tastsinn zugeordnet, bei der Temperatureinschätzung eines Weines geht es also um das subjektive Empfinden, das Anfühlen. Tatsache ist, dass je höher die Temperatur des Weins ist, desto flüchtiger werden die Aromen. Bei über 20 Grad wird auch der Alkohol flüchtig und der Wein riecht schon deutlich alkoholisch. Bei niederer Temperatur schmecken wir auf der Zunge bitter schmeckende Gerbstoffe bitterer als bei höherer Temperatur. Gerbstoffbetonter Wein sollte mit 18 Grad serviert werden. Bei höherer Temperatur empfinden wir Säure saurer, bei niederer Temperatur kommt der erfrischende Aspekt von Säure mehr zur Geltung. Säurebetonter Wein sollte mit zehn Grad serviert werden, süsser Wein braucht acht Grad, denn bei zunehmender Temperatur empfinden wir Süsses als klebrig-süss.
Diskutieren Sie nicht über die «richtige Serviertemperatur», da es sich um eine vollkommen subjektive Wahrnehmung handelt. Die entscheidenden Fragen sind: Welche Veränderungen fördere ich, weil ich im Resultat den Wein dann mehr mag? Was ist für mich das Wesentliche an diesem Wein und möchte ich dies betonen? Gefällt mir die momentane Ausprägung von Aromen und Geschmack oder möchte ich andere Akzente setzen? Will ich beim Aroma ins Extrem gehen, und welche Nebenwirkungen nehme ich dann in Kauf? Steht mir der Sinn gerade nach Erfrischung oder soll mich der Wein wärmen? Trinke ich den Wein zur kalten Vorspeise oder zu heissen Speisen? Wie ist die gefühlte Temperatur – also alles, was die Umgebungstemperatur ausmacht – und dazu gehört nicht nur der physisch wirksame Aspekt, sondern auch die seelisch wahrnehmbare «Aussentemperatur» gemessen in zwischenmenschlicher Wärme.
Die Enzyklopädie Wikipedia versteht unter dem Ausdruck «warmer Wein» einen extrakt- und alkoholreichen Wein mit gewisser Süsse, der durch seinen Alkoholgehalt das Gefühl innerer Wärme vermittelt.
Vielleicht war das mit dem Volksmund einfach ein Missverständnis, weil sich die Menschen nach mehr Herzenswärme, Zärtlichkeit, Zuneigung und Liebe sehnen, und deshalb versuchen sie mit ihren Händen den Rotwein im Glas zu wärmen.

Der Autor: Bruno-Thomas Eltschinger ist Präsident des Deutschschweizer Sommelierverbandes (SVS/ASSP). Seit vielen Jahren beschäftigt er sich professionell mit der internationalen und der schweizerischen Weinszene.

→ zum Hotelier

 

Der Sommelierverband Deutschschweiz bevorzugt die Produkte unserer PLATINUM-PARTNER:

elemant selection
Seit 1863

 Feldschlösschen LogoSTUDER Logo

 

 

 

 

 

Sponsoren:

1 Swiss Wine sw